Widersprüche in Ellen Whites Schriften? – Teil 1: "Eine moderne Legende"

April 2016, advindicate.com, Kevin Paulson

Dies ist der erste Teil einer Artikelserie über vermeintliche Widersprüche im Schrifttum von Ellen White. Er behandelt grundlegende Prinzipien der Thematik.

Die Annahme, die Schriften Ellen Whites würden wesentliche Widersprüche enthalten – dass sie z. B. mehrmals während ihres Dienstes theologische oder auch andere Ansichten änderte, dabei aber immer Anspruch auf göttliche Inspiration erhob –, ist eine Auffassung, die in gewissen Kreisen heutiger Adventisten zunehmend als selbstverständlich angesehen wird. Wer diese Auffassung vertritt, ohne die prophetische Gabe Ellen Whites grundsätzlich abzulehnen, erklärt die angeblichen Veränderungen oft mit dem Wort „Wachstum“. (Wer sie als Betrügerin betrachtet, benutzt oft weniger freundliche Worte.)

Ob diese Personen angebliche Änderungen als Wachstum oder klaren Widerspruch bezeichnen und ob sie Ellen Whites Anspruch als inspirierte Botin akzeptieren oder ablehnen – das Ergebnis bleibt in Theorie und Praxis das Gleiche: Wir halten eine Sammlung angeblich heiliger Niederschriften in Händen, die dennoch nicht objektive, offenbarte, fehlerfreie Wahrheit verkörpern. Und wenn das Zeugnis eines Propheten widersprüchlich ist, dann ist die logische Konsequenz, dass es dem Gläubigen oder auch der gesamten Gemeinde freisteht, ihm immer dann nicht zu folgen, wenn Weisheit, Erkenntnis oder Umstände es ratsam erscheinen lassen.

Eine weitere Behauptung ist, Ellen White habe nie gewollt, dass ihre Schriften zur Klärung von Lehrfragen oder anderen geistlichen Kontroversen verwendet würden; dies würde ihren Aussagen eine Bedeutung beimessen, die sie selbst nie beansprucht habe. Diese Revisionisten [Umschreiber der Geschichte] behaupten, nicht Ellen Whites Kritiker, sondern ihre Verfechter hätten ihr den größten Schaden zugefügt.

Dieser und anderen bekannten Behauptungen über Ellen Whites prophetische Autorität und angebliche Unstimmigkeiten wollen wir in diesem und den nachfolgenden Artikeln nachgehen. Wir beginnen mit dem Grundsätzlichen und betrachten zunächst das Verhältnis zwischen kanonischer und nichtkanonischer prophetischer Autorität gemäß der Bibel und Ellen Whites eigenen Aussagen über Umfang und Einzelheiten ihres prophetischen Dienstes. Wir werden im Lauf der Serie feststellen, dass die zahlreichen revisionistischen Annahmen über Ellen White unter heutigen Adventisten eher „moderne Legenden“ sind, wie Soziologen sagen würden, als neu entdeckte Tatsachen.

Ich bin schon lange der Überzeugung, dass die größte Bedrohung für den prophetischen Dienst Ellen Whites nicht gifterfüllte Webseiten mit plumpen Anschuldigungen von Betrug und Lüge sind, noch sind es erbitterte Schimpftiraden wie vom verstorbenen Walter Rea in seinem unrühmlichen Buch The White Lie. Die wohl größte Bedrohung für Ellen Whites prophetischen Dienst liegt auf der gleichen Ebene wie die Behauptung, Jesus sei ein vorbildlicher Mensch gewesen, der vielleicht beste geistliche Lehrer aller Zeiten – aber eben nicht der menschgewordene Sohn des ewigen, persönlichen Gottes der Bibel.

Moderne und postmoderne Revisionisten Ellen Whites verwenden einen ähnlichen Ansatz bezüglich ihrer prophetischen Autorität. Statt sie Scharlatanin oder Hochstaplerin zu nennen, betonen sie, dass sie wirklich eine inspirierte Botin des Herrn gewesen ist, ihre Aussagen allerdings weniger verbindlich für das Gewissen der Gläubigen seien als die Gebote der Heiligen Schrift. Ihr Rat an die Gemeinde sei nicht immer stimmig gewesen, manche Äußerungen sogar grundlegend falsch und im Widerspruch zu den Lehren und moralischen Maßstäben der Bibel. Entsprechend behalten sich Revisionisten (oft „progressiv“ genannt) das Recht vor, von Ellen Whites Rat abzuweichen, wenn ihr eigenes Verständnis von Bibel, Wissenschaft oder Geschichte es erforderlich macht. Es ist dieser „gemäßigte“ Standpunkt zu Ellen Whites Rolle in der Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten, der im Fokus dieses und der nachfolgenden Artikel stehen soll.

Ein Hinweis, bevor wir fortfahren: Der oben verwendete Ausdruck „grundlegend falsch“ ist für unsere Studie programmatisch. Wir behandeln hier keine nebensächlichen Diskrepanzen in den inspirierten Schriften wie die Anzahl der Familienmitglieder Jakobs, die nach Ägypten zogen (1. Mose 46,27; Apostelgeschichte 7,14), oder welche Glocke zu Beginn der Bartholomäus-Nacht läutete (siehe Arthur L. White, Ellen G. White: The Later Elmshaven Years, 1905-1915, S. 330f.). Zu solchen Fragen kommt mir Ellen Whites Zitat über die Bibel in den Sinn, das sicher auch auf ihre eigenen Schriften zutrifft:

Manche blicken uns ernst an und sagen: „Meinst du nicht, dass sich beim Abschreiben oder Übersetzen einige Fehler eingeschlichen haben?“ Das ist möglich. Wenn jemand so klein denkt und wegen solcher Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit in Zweifel und ins Straucheln gerät, dann würde er auch über die Geheimnisse des inspirierten Wortes ins Straucheln geraten, weil sein begrenzter Geist die Absichten Gottes nicht erkennt. (Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 16)

Kurz gesagt, nicht die Frage nebensächlicher Ungereimtheiten, sondern wesentlicher Irrtümer ist Gegenstand der vorliegenden Artikelserie.

Kanonische und nichtkanonische Propheten

Manch einer verwendet das Motto der Reformatoren Sola scriptura (Allein die Schrift), um die geistliche Autorität und allgemeine Zuverlässigkeit der Schriften Ellen Whites gegenüber den kanonischen Schriften der Bibel abzuschwächen. Das gravierendste Problem dieser Theorie ist jedoch, dass die Bibel über das Leben und Zeugnis von prophetisch begabten Personen berichtet, die dem Volk Gottes und manchmal auch der Welt Rat und Tadel vermittelten und deren Dienst – obwohl ihre Schriften später nicht von der Gemeinde in den biblischen Kanon aufgenommen wurden – genügend Beweise liefert, dass sie dieselbe Autorität über Glauben und Leben der Glaubensgemeinschaft ausübten wie Propheten, deren Schriften später Teil der Bibel wurden.

Beispiele dafür sind biblische Propheten wie Debora, Nathan, Gad, Elia, Elisa, Hulda, Hanna und Johannes der Täufer. Diese Propheten haben nicht nur mündlich Zeugnis in der Glaubensgemeinschaft abgelegt, sondern manchmal auch schriftlich. Die Bibel weist darauf hin, dass z. B. Nathan und Gad prophetische Bücher verfasst haben (1. Chronik 29,29). Das Gleiche gilt für nichtkanonische Propheten wie Schemaja, der den jüdischen König Rehabeam beriet, und Iddo (2. Chronik 12,15).

Man kann wohl kaum behaupten, Propheten wie Nathan und Gad, deren Schriften später nicht kanonisiert wurden, hätten weniger geistliche Autorität über die Gemeinschaft der Gläubigen ausgeübt als die Schriften Davids, die später kanonisiert wurden. Wie wir wissen, tadelten sowohl Nathan wie Gad in bestimmten Situationen Davids Verhalten (2. Samuel 12,1-14; 24,11-14). (Man stelle sich vor, David hätte zu Gad gesagt, sein Tadel für die Zählung Israels müsse nicht unbedingt angenommen werden, da Gad ein nichtkanonischer Prophet bleiben sollte, während David zu einem kanonischen Propheten bestimmt sei!)

Jesus nannte seinen Wegbereiter Johannes den Täufer später „mehr als einen Propheten“ und erklärte: „Unter denen, die von Frauen geboren sind, ist kein Größerer aufgetreten als Johannes der Täufer.“ (Matthäus 11,11) Trotzdem trägt kein Buch der Bibel dessen Namen.

Diese Tatsachen sollen nicht den späteren Prozess der Kanonisierung von Altem und Neuem Testament in Frage stellen. Sie helfen uns jedoch zu verstehen, dass ein Prophet nicht deshalb Autorität besitzt, weil er ein kanonischer Prophet ist. Vielmehr wurde ein Prophet kanonisiert, weil er Autorität besaß. Gott hat keine zweitrangigen Propheten.

Das kleinere Licht

Auf welcher Grundlage nennt sich Ellen White dann „das kleinere Licht“ (siehe Botschafter der Hoffnung, S. 119)? Das nachfolgende Zitat macht es deutlich:

Keine neuen Wahrheiten wurden [in den Zeugnissen] aufgezeigt, vielmehr hat Gott die großen Wahrheiten, die bereits gegeben wurden, durch die Zeugnisse vereinfacht. (Testimonies, Bd. 5, S. 665)

Mit anderen Worten, Ellen Whites Schriften sind das kleinere Licht, weil sie keine neuen Wahrheiten, Lehren oder moralischen Grundsätze bringen. Diese stammen alle aus der Bibel. Ellen White verstärkt und vereinfacht lediglich, was die Schrift bereits lehrt. Doch nirgendwo misst Ellen White ihren Schriften einen geringeren Grad an Autorität über die Glaubenslehren und -praktiken der Gemeindeglieder bei, als ob eine Aussage aus ihrer Feder nicht mit derselben Ernsthaftigkeit und Konsequenz angenommen werden sollte wie ein Text aus der Bibel.

Im modernen Adventismus wurde Ellen Whites Aussage über das „kleinere Licht“ nur zu oft so gedeutet, als seien die Worte der Heiligen Schrift unstrittig, Ellen Whites Worte hingegen diskutierbar. In der Praxis führt dies zu der Meinung, theologische oder Lebensstilfragen ließen sich mit der Bibel beantworten, jedoch nicht unbedingt mit Aussagen von Ellen White. Daraus schließt man, dass Ellen Whites Aussagen zu Themen wie Erlösung, Gericht, Anbetung, Beziehungen, Ernährung oder Kleidung zwar bestimmte Ansichten oder Verhaltensweisen erlauben oder verbieten, die Sache jedoch der Entscheidung des Gläubigen überlassen bleibt, solange die Bibel keine klaren Anweisungen zum Thema enthält.

Dieses Argument wird oft von Adventisten verwendet, die Fleisch essen – wer in der Gemeinde groß geworden ist, kann das leicht bestätigen. Ellen Whites Rat, überhaupt kein Fleisch zu essen, wird oft mit der Begründung missachtet, dass die Bibel ja den Verzehr von reinem Fleisch genehmigt (3. Mose 11; 5. Mose 14,3-21). (Dass Fett und Blut ebenso verboten sind [1. Mose 9,4; 3. Mose 3,17; Apostelgeschichte 15,20.29], wird von fast allen fleischessenden Adventisten in meinem Bekanntenkreis völlig außer Acht gelassen.) Vor Jahren erlebte ich, wie ein Ehepaar in der Sabbatschule meinte, Adventisten sollten mit der Einführung von „Menschengeboten“ für die Gemeindeglieder aufhören, und dabei auch das Rauchen aufzählte. Aus ihrer Sicht war das ein Menschengebot, weil es nur in Ellen Whites Schriften, aber nicht in der Bibel zu finden war. (Im Nachhinein dachte ich mir, ich hätte sie fragen sollen, ob die Gemeinde auch Kokain und Heroin erlauben sollte, denn die kommen in der Bibel auch nicht vor.)

Der Heilige Geist ist der Urheber der Bibel und des Geistes der Weissagung. (Ellen White, Selected Messages, Bd. 3, S. 30)

Die Schrift ist insofern größer und der Geist der Weissagung geringer, dass die Schrift der Ursprung der Wahrheit ist und der Geist der Weissagung ihre Bekräftigung. Der Unterschied liegt in der Funktion, nicht der Autorität. Weder die Schriften Ellen Whites noch der biblische Bericht über das Wirken der Propheten deuten darauf hin, manche prophetische Schriften seien ernster zu nehmen als andere. Das Verhältnis von kanonischen zu nichtkanonischen Propheten – in diesem Fall Bibel und Ellen White – ist ganz einfach: andere Funktion, gleiche Autorität.

Ablenkungsmanöver Verbalinspiration

In Diskussionen über Ellen Whites Rolle in der Gemeinde wird oft der Unterschied zwischen Verbal- und Personalinspiration aufgebracht. Dieses Thema hat aber gar nichts mit der Beziehung zwischen Bibel und Ellen White zu tun. Schwester White stellt klar, dass die biblischen Schreiber nicht verbalinspiriert waren:

Die Bibel wurde von inspirierten Menschen geschrieben, aber es ist nicht die Art, wie Gott seine Gedanken ausdrückt, sondern wie es Menschen tun. Nicht Gott wird als Autor dargestellt. Menschen werden oft sagen, ein solcher Ausdruck sei nicht göttlich. Aber Gott hat sich in der Bibel nicht in Worten, Logik und Rhetorik einem Test unterziehen wollen. Die Autoren der Bibel waren Gottes Schreiber, nicht seine Feder …

Nicht die Worte der Bibel sind inspiriert, sondern die Menschen. Die Inspiration bezieht sich nicht auf die Worte oder Ausdrücke des Menschen, sondern auf ihn selbst. Er ist es, der unter dem Einfluss des Heiligen Geistes mit Gedanken erfüllt wird. Doch die Worte tragen den Stempel der jeweiligen Persönlichkeit. Der göttliche Geist hat sich mitgeteilt. Der göttliche Geist und Wille verbinden sich mit dem Geist und Willen des Menschen. Auf diese Weise werden die Worte des Menschen zum Wort Gottes. (Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 20f.)

Unterm Strich macht es jedoch keinen Unterschied, ob etwas wörtlich oder gedanklich eingegeben worden ist, was die Autorität über menschliches Denken und Verhalten betrifft. Biblische Lehren wie die Gottheit, Jungfrauengeburt, Erlösung, Sabbat, natürliche Sterblichkeit und Untersuchungsgericht wären bei Verbalinspiration nicht weniger wahr als bei Personalinspiration. Das Gleiche gilt für Ellen Whites Aussagen über Theologie, Gottesdienst und Lebensstil.

Im Licht der obigen Feststellung Ellen Whites über die göttliche Gedankeneingebung eines Propheten ist folgende Aussage aus ihrer Feder über den göttlichen Ursprung ihrer Arbeit von besonderer Bedeutung:

Wie viele haben „Patriarchen und Propheten“, „Der große Kampf“ und „Das Leben Jesu“ sorgfältig gelesen? Möge doch jeder erkennen, dass mein Vertrauen auf das von Gott gegebene Licht fest gegründet steht, denn ich weiß, dass die Kraft des Heiligen Geistes die Wahrheit verherrlichte und sie durch die Worte auszeichnete: „Dies ist der Weg, den gehet.“ In meinen Büchern wird das Wort Gottes dargestellt und durch ein „So spricht der Herr!“ mit einem Schutzwall umgeben. Der Heilige Geist zeichnete mir diese Wahrheiten ebenso unauslöschlich in Herz und Sinn, wie das Gesetz durch Gottes Finger auf die steinernen Tafeln geschrieben wurde. (Botschafter der Hoffnung, S. 119)

Kurz gesagt, weder die Bibel noch die Schriften von Ellen White sind verbalinspiriert. Da beide allerdings in voller Übereinstimmung sind, ist auch das Gedankengut beider völlig harmonisch, sowohl in sich selbst wie auch miteinander, und beide beanspruchen dieselbe Autorität für die Glaubenslehren und -praktiken von Siebenten-Tags-Adventisten.

Ellen White und ihre Autorität in Glaubenslehren

Manche adventistischen Wortführer pochen heute darauf, dass Ellen White nie eine „theologische Polizistin“ oder „exegetische Schiedsrichterin“ für Bibelauslegung sein wollte. Adventisten, die ihre Schriften als moralische oder Lehrautorität benutzen, tun demnach etwas, was sie weder wollte noch voraussah. Einige sagen sogar, sie wäre sehr verärgert, wenn sie wüsste, wie konservative Adventisten ihre Schriften nach ihrem Tod verwendet haben.

Doch folgende Aussagen aus der Feder Ellen Whites zeigen sehr deutlich, dass eine bestätigende und berichtigende Funktion durchaus Teil ihres prophetischen Auftrags war:

Gott hat in diesem Wort [der Bibel] versprochen, in den „letzten Tagen“ Visionen zu geben, nicht als eine neue Richtschnur des Glaubens, sondern zum Trost seines Volkes, und um denen zu helfen, die von der Bibelwahrheit abgewichen sind. (Erfahrungen und Gesichte, S. 69)

Der Herr hat mir viel Licht gezeigt, dass ich den Menschen weitergeben möchte; er hat mir Unterweisung für Sein Volk gegeben. Sie sollten dieses Licht haben, Vorschrift auf Vorschrift, Satzung auf Satzung, hier ein wenig, da ein wenig. Es soll jetzt vor die Menschen gebracht werden, weil es gegeben worden ist, um bestimmte Irrtürmer zu berichtigen und zu zeigen, was Wahrheit ist. (Selected Messages, Bd. 3, S. 32)

Keine neuen Wahrheiten werden [in den Zeugnissen] aufgezeigt, vielmehr hat Gott die großen bereits gegebenen Wahrheiten durch die Zeugnisse vereinfacht. (Testimonies, Bd. 5, S. 665)

Mein begleitender Engel zeigte mir einige der Irrtümer der Anwesenden und auch die Wahrheit im Gegensatz dazu. Diese widersprüchlichen Ansichten, die sie als biblisch hinstellten, entsprachen lediglich ihrer Meinung von der Bibel. Sie sollten ihre Irrtümer aufgeben und sich mit auf das Fundament der dritten Engelsbotschaft stellen. Unsere Versammlung schloss siegreich. Die Wahrheit errang den Sieg. (Testimonies, Bd. 1, S. 86)

Man hegte bedenkliche Irr­tümer in Lehre und Praxis … Gott offenbarte mir diese Irrtümer im Gesicht und sandte mich zu seinen irrenden Kindern, um sie darüber aufzuklären. (Testimonies, Bd. 5, S. 655f.)

Damals drängte sich uns ein Irrtum nach dem anderen auf, Prediger und Doktoren brachten neue Lehren vor. Wir suchten unter vielem Beten in der Schrift, und der Heilige Geist übermittelte die Wahrheit unserem Verständnis … Die Kraft Gottes kam dann auf mich, und ich konnte klar unterscheiden, was Wahrheit und was Irrtum war. (Diener des Evangeliums, S. 268)

Hat Ellen White sich geweigert, in Lehrfragen zu schlichten?

Einige werden auf zwei bestimmte Vorfälle in Ellen Whites Dienst verweisen, wo sie sich weigerte, einen strittigen Lehrpunkt anzusprechen, oder nicht wollte, dass ihre Schriften zur Schlichtung der Kontroverse verwendet werden. Eine gründliche Untersuchung dieser Fälle zeigt, aus welchem Grund sie diese besonderen Debatten nicht persönlich oder durch ihre Schriften entschied.

Der erste Punkt, der in manchen Kreisen bis heute diskutiert wird, betrifft das „Tägliche“ im Buch Daniel. Viele werden die Frage noch kennen: Symbolisiert das vom kleinen Horn (Papsttum) weggenommene „Tägliche“ das Heidentum oder Christi Mittlerdienst im Himmel? (In einem zukünftigen Artikel dieser Serie werden wir die Behauptung betrachten, Ellen Whites Aussagen zu diesem Thema würden sich widersprechen.) Ellen White brachte klar zum Ausdruck, warum sie nicht wollte, dass ihre Schriften in diesem Streit verwendet werden:

Ich ersuche die Brüder H., I., J. und andere leitende Brüder ernstlich darum, meine Schreiben nicht dazu zu verwenden, ihre Ansichten vom „Täglichen“ in Daniel 8 zu erhärten.

Mir wurde gezeigt, dass dieses Thema nicht von lebenswichtiger Bedeutung ist. Mir wurde gesagt, dass die Brüder einen Fehler machen, wenn sie die Wichtigkeit der vertretenen unterschiedlichen Ansichten übertreiben. Ich kann dem nicht zustimmen, dass auch nur eines meiner Schreiben dazu verwendet wird, diese Sache zu klären. Die wahre Bedeutung des „Täglichen“ darf nicht zur entscheidenden Frage gemacht werden.

Ich bitte nun meine Brüder, die Prediger, darum, meine Schreiben nicht für ihre Beweisführung in dieser Frage („das Tägliche“) zu verwenden; denn ich habe für dieses Gesprächsthema keine Unterweisung und sehe keine Notwendigkeit für die Auseinandersetzungen. (Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 173)

Warum bat sie darum, den Streit nicht mithilfe ihrer Schriften zu schlichten? Nicht, weil ihr prophetischer Dienst keine Rolle in der Klärung von Lehrdiskussionen spielte, wie manche behaupten, sondern mit ihren eigenen Worten: „Ich habe für dieses Gesprächsthema keine Unterweisung“. Offensichtlich konnte sie der Gemeinde keinerlei Bestätigung oder Berichtigung geben, weil sie vom Herrn keine empfangen hatte.

Der zweite Fall war der Konflikt im Jahr 1888 über den Bedeutungsumfang des Gesetzes im Galaterbrief. (Wie bei der Frage des „Täglichen“ werden wir auch die Behauptungen über Widersprüche Ellen Whites bei diesem Thema in einem späteren Artikel aufgreifen.) Warum zögerte sie zunächst, dieses Problem öffentlich anzusprechen? Aus dem gleichen Grund wie beim „Täglichen“. Als der Streit über das Gesetz im Galaterbrief im Vorfeld der 1888-Generalkonferenz in Minneapolis aufkam, blieb Ellen White zunächst neutral. Sie wollte zuerst entweder von Gott Weisung erhalten oder beide Seiten der Frage besser kennenlernen.

Ich kann auf keiner Seite meinen Standpunkt einnehmen, bis ich die Frage studiert habe. (1888 Materials, Bd. 1, S. 153)

Zu einem späteren Zeitpunkt sagte ihr begleitender Engel über beide Ansichten:

Keiner hat alles Licht über das Gesetz, keine Sichtweise ist vollständig. (S. 93)

Kurz nach Minneapolis schrieb sie, das betreffende Thema „sollte nicht im Stil einer Debatte erörtert werden“; es sei „keine wesentliche Frage und sollte auch so behandelt werden“ (Selected Messages, Bd. 3, S. 174f.). Einige Jahre später, als der Streit zu einem gewissen Grad nachgelassen hatte und sie beide Ansichten besser verstand, wurde Ellen White von Gott angeleitet, den Standpunkt zu bekräftigen, den sie schon früher in ihrem Dienst eingenommen hatte:

Man fragt mich über das Gesetz im Galaterbrief. Welches Gesetz ist der Zuchtmeister, der uns zu Christus führt? Ich antworte: Beide – das Zeremonial- und das Sittengesetz der Zehn Gebote. (Selected Messages, Bd. 1, S. 233)

Meines Wissens hat dieser Streit die Adventgemeinde nie wieder geplagt. Die obige Aussage Ellen Whites klärte das Thema endgültig.

Zusammenfassung

Obwohl nicht alle prophetischen Zeugnisse zu biblischen Zeiten später von der Gemeinde in den Kanon aufgenommen wurden, enthält die Bibel keinen Hinweis auf Unterschiede in der göttlichen Autorität kanonischer und nichtkanonischer Propheten. Die Bibel und Ellen Whites Schriften haben verschiedene Funktionen: Erstere etabliert die Wahrheit, Letztere bestätigen und verdeutlichen sie. Beide haben dieselbe Autorität hinsichtlich Glauben und Leben von Adventisten, denn beide gleicherweise sind übernatürlichen Ursprungs und sollen geistlichen Einfluss ausüben.

In den folgenden Artikeln werden wir eine Reihe angeblicher Widersprüche in den Schriften Ellen Whites betrachten. Als Begleitmaterial für diese Artikelserie empfehle ich die Bücher „Messenger of the Lord“ von Herbert E. Douglass, „101 Fragen zu den Themen: Das Heiligtum und Ellen G. White“ von Robert W. Olson und das etwas ältere Buch von Francis D. Nichol „Ellen G. White and Her Critics“.