Kommt die familienlose Gesellschaft?

A. W. Spalding schrieb 1928 in seinem Buch Makers of the Home [Gestalter des Zuhauses]:

Die Familie ist für die Gesellschaft, was die Zelle für den Körper ist. Man kann einen Finger verlieren, ein Ohr oder einen Fuß, und der Körper lebt weiter, wenn auch verstümmelt. Aber es ist unmöglich, das Leben der Zelle zu zerstören, des Grundbausteins jedes Organs und Gewebes, ohne den Tod herbeizuführen. Genauso mag es zu umwälzenden Verände rungen in der wirtschaftlichen, sozialen, politischen und sogar religiösen Ordnung kommen, und die Menschheit lebt weiter. Doch sollte das Leben zu Hause zerstört werden, der Grund lage für jede andere menschliche Einrichtung, gäbe es für den Menschen keine Hoffnung mehr. (S. 27)

Ein Zukunftsszenario

Stellen wir uns einmal ein Szenario vor, in dem es weder Familien noch Ehen gibt. Durch fortschrittliche Verhütungsmethoden kann eine junge Frau jederzeit entscheiden, ob sie schwanger werden möchte oder nicht. Um einen passenden Partner zu finden, kann sie sich entweder am Paarungsverhalten der Tierwelt orientieren oder dank moderner Technik den Weg künstlicher Befruchtung wählen. Vielleicht kann sie Kataloge durchblättern, wo Männer mit Bild und allen wesentlichen Merkmalen wie Intelligenzquotient, Interessen und persönliche Stärken und Schwächen aufgeführt sind, sodass sie aus einem weiten Spektrum den passenden Samenspender für ihr Kind aussuchen kann.

Nach Beginn der Schwangerschaft übernimmt eine staatliche Institution die Fürsorge der jungen Dame, und sie bleibt, solange es ihr möglich ist, auch als werdende Mutter in ihrem Beruf. Das Neugeborene wird gleich nach der Geburt an ein Kinderzentrum weitergereicht, wo es in einer sorgfältig gestalteten Umgebung die ideale Förderung erhält, um Intelligenz und die besten Eigenschaften beider Elternteile zu entwickeln. Bei entsprechender personeller Ausstattung können sich ausgebildete Kinderpsychologen um die Kleinen kümmern und ihre Fortschritte überwachen. Auch die Sozialisation des Kindes wäre in so einem Zentrum kein Problem, da es von Scharen anderer Kinder umgeben ist, mit denen es spielen kann, zusammen essen, schlafen und jede Menge Spaß haben.

Alles in der Einrichtung ist darauf abgestimmt, das Beste aus dem Nachwuchs herauszuholen. Spezielles Spielzeug trainiert die motorische Entwicklung der Kinder, Geräte messen täglich ihren Fortschritt. Die Sprachentwicklung wird durch riesige Sprachlabors unterstützt, wo die Kleinen jede beliebige Anzahl von Sprachen auf lustige und aktive Weise erlernen können. Durch die Begegnung mit männlichen wie weiblichen Mitarbeitern wird die geschlechtliche Identität definiert, und Multimedia-Programme fördern je nach Alter bestimmte Fertigkeiten.

Auch für Zuwendung und Körpernähe ist reichlich gesorgt. Jeder Entwicklungspsychologe weiß ja, dass Babys und Kleinkinder sehr viele Streicheleinheiten und Liebe brauchen. Man könnte es sogar so organisieren, dass ein Kind immer wieder mit demselben Fachpersonal zu tun hat, sodass genügend emotionale Bindung entstehen kann.

Ungestörte Selbstverwirklichung?

Welche Vorteile hätte so eine familienlose Gesellschaft für die Menschheit? Denken wir nur daran, wie unbeschwert jeder seine Karriere verfolgen könnte, ohne darüber nachdenken zu müssen, wer sich um seine Kinder kümmert! Und wie herrlich wäre es, sich in endlosen Romanzen zu verlieren, ohne je ans Heiraten denken zu müssen! Und sollte es doch einmal zu einer unerwünschten Schwangerschaft kommen, wäre es ganz unnötig abzutreiben, da die Kinderzentren sich um jedes Neugeborene kümmern. So wäre ein Paar nicht einmal auf Verhütungsmittel angewiesen, sondern könnte seinen Nachwuchs dem Staat überlassen (es sei denn, die Frau möchte sich die Strapazen einer Schwangerschaft und Geburt grundsätzlich nicht zumuten).

Wie viel Eigenvermögen könnten Männer und Frauen zeit ihres Lebens anhäufen, wenn sie kein Geld in Kleidung, Essen, Ausbildung und Gesundheit von Kindern stecken müssten! Natürlich wären die Steuern auch etwas höher, aber unter dem Strich käme mit Sicherheit ein Plus heraus. Abgesehen davon gäbe es weitaus weniger zwischenmenschliche Konflikte – keine Scheidungen, keine Schuldzuweisungen oder Hass gegen Eltern und keine Probleme mit der Verwandtschaft. Bei Unstimmigkeiten mit dem Arbeitgeber bräuchte man nicht auf familiäre Verpflichtungen Rücksicht zu nehmen, sondern könnte umgehend zu einer anderen Filiale umziehen oder einen anderen Job annehmen. Wie viel einfacher wäre doch alles! – Oder …?

Wahrer Reichtum

Spr 16,25 Mancher Weg erscheint dem Menschen richtig, aber sein Ende führt doch zum Tod.

Die einsame Selbstgefälligkeit in diesem Szenario einer familienlosen Gesellschaft erscheint eigenartig nackt und trist, vergleicht man sie mit dem Reichtum an Liebe und Zugehörigkeit, den Gott in die Familie hineingelegt hat. Das menschliche Herz sehnt sich nach einem Heim, und diese wahre Heimat ist die Familie. Es stimmt, dass die traditionelle Familie Einschränkungen mit sich bringt. Aber sie hat etwas Geniales, das nicht zu übertrumpfen ist. Zu allen Zeiten hat es Bemühungen gegeben, die Familie zu ersetzen. Doch sie existiert immer noch, auch wenn sie heute auf breiter Front attackiert wird.

Familie bedeutet Verantwortung und Rechenschaft. Es gibt eine gesunde Eifersucht, die über dem Ihren wacht und letztlich ein Gefühl von Zugehörigkeit erzeugt. Gerade die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, schenkt auch jene Befriedigung, die sich jeder wünscht. Eine gesunde Familienstruktur in gegenseitiger Verbindlichkeit schenkt ein tiefes Erleben von Bereicherung und Wohlbefinden. Diese Loyalität hat auch ihren Preis – sie nimmt das Risiko in Kauf, verletzt, enttäuscht und verspottet zu werden. Dennoch ist sie das warme Feuer, das die Familie im Inneren zusammenhält.

Lieben heißt Geben

Die Familie ist in ihrem Wesen und Kern ein beständiger Kreislauf des Gebens und Aufgebens: die Eltern geben einander und den Kindern, die Kinder geben einander und letztlich auch wieder ihren Eltern. Solch ein Geben ohne eigennützige Motive ist die Essenz des Dienens – Selbstaufopferung zum Wohl von anderen. Die Freuden der Familieneinheit durch Geben und Opfern sind wiederum Erfahrungen, mit denen viele Verfasser der Bibel unsere Beziehung zu Gott vergleichen. Tatsächlich hat unser Bild von Gott viel mit dem Erleben in unserer Familie zu tun. Er, der die Quelle aller menschlichen Liebe ist, sagt uns:

Jer 31,3 Ja, mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dir meine Güte bewahrt.

In der Gabe seines geliebten Sohnes an die Welt hat Gott seine grenzenlose Liebe und Opferbereitschaft bewiesen. Eine Familie wird dann ihr höchstes Glück erleben, wenn jeder bereit ist, eine ähnliche Hingabe zu praktizieren. Dann wird die Familie auf der Erde in Einklang mit der Familie im Himmel sein. Unser Heim wird von einer himmlischen Atmosphäre erfüllt sein – so wie Gott es von Anfang an beabsichtigt hat.

Laurel Damsteegt, „Kommt die familienlose Gesellschaft?“, Standpunkte (Ausg. 24, 2014), S. 12-14