Die Impfung und das Stockholm-Syndrom

Nachdem nun einige Zeit über mögliche Freiheitseinschränkungen nur für Ungeimpfte debattiert wurde, gehen Politik und Medien in der Diskussion, wie eine höhere Durchimpfungsrate zu erreichen sei, offenbar zum nächsten Schritt über, indem sie erneute freiheitseinschränkende Maßnahmen im kommenden Herbst direkt mit der Impfbereitschaft der bislang Ungeimpften verknüpfen.

So sagte Angela Merkel auf einer Pressekonferenz in Berlin am 22.07.2021:

„Jede einzelne Impfung zählt. Jede Impfung einer einzelnen Person ist ein Schritt, ein kleiner Schritt, zur Normalität für alle […] Eine Impfung schützt nicht nur gut vor schwerer Krankheit und Schmerz, sondern auch vor den beschränkenden Maßnahmen unseres Alltags. Das heißt also, je mehr geimpft sind, umso freier werden wir wieder sein. Nicht nur als einzelne, sondern eben auch als Gemeinschaft“1.

Und auch Christian Drosten sagt in einem schriftlich geführten Interview mit der Deutschen Presse-Agentur:

„Wir müssen möglichst viele Menschen informieren und dazu bewegen, sich impfen zu lassen. Jeder Erwachsene kann durch Impfung seinen Beitrag leisten, dass Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft im Winterhalbjahr nicht erneut eingeschränkt werden müssen“2.

Der Unterschied zur bisherigen Vorgehensweise, nur den Ungeimpften mit Einschränkungen zu drohen, liegt auf der Hand: So ungerecht und verfassungswidrig das Knüpfen von Grundrechten eines Einzelnen an den Impfstatus dieser Person auch sein mag, hängt doch an der Impfentscheidung des Individuums in diesem Szenario lediglich seine eigene Freiheit. Die zitierten Worte hingegen sprechen die Sprache des Kollektivismus, in dem das Ausüben von Freiheitsrechten der gesamten Gesellschaft an das Verhalten einzelner Individuen geknüpft wird.

Die nicht Impfwilligen lösen so in der öffentlichen Rhetorik das Virus als Ursache für Freiheitseinschränkungen ab. Seit Beginn der Maßnahmen war stets vom Virus die Rede gewesen, das z.B. Unternehmer oder gar ganze Bundesländer in die Knie zwingt3, wenn von den desaströsen wirtschaftlichen Konsequenzen des Lockdowns oder anderer Maßnahmen berichtet wurde. Auf diese Weise treten die wahren Akteure, nämlich Politik und Regierung, sprachlich in den Hintergrund. Nicht die Regierung zerstört mit den Lockdowns die Wirtschaft, nicht die Politik zwingt mit bestimmten Maßnahmen ein Land in die Knie, nein, das Virus ist in der Berichterstattung und öffentlichen Äußerungen stets handelndes Subjekt. Ein solches Vorgehen verfehlt seine Wirkung nicht: Die meisten Menschen übernahmen und übernehmen im alltäglichen Sprachgebrauch ganz selbstverständlich diese Rhetorik und sprechen ebenfalls von der Pandemie, dem Virus oder eben von Corona als Grund für die harten Zeiten.

Jetzt, so scheint es, wird eine neue Eskalationsstufe eingeleitet, indem in der nun beginnenden Herbstvorausschau schon jetzt der Verursacher eventueller Einschränkungen neu benannt wird: Es ist nun nicht mehr Corona, es ist der ungeimpfte Nachbar.

Verstärkt wird dieser Effekt noch durch ein regelrechtes Einschwören auf gesellschaftlichen Kollektivismus, versteckt hinter wohlklingenden Worten wie „Solidarität“ und „Gemeinschaft“:

„Wir wollen alle unsere Normalität zurück. Aber diese Normalität erhalten wir nicht allein, die erhalten wir nur als Gemeinschaft zurück. Und dazu brauchen wir noch deutlich mehr Impfschutz“4, so Merkels einleitende Worte auf der besagten Pressekonferenz.

Bereits Jens Spahn hatte bei einem gemeinsam mit Merkel begangenem Besuch des RKI am 13.07.2021 gesagt: „Impfen ist eine individuelle Entscheidung, jede einzelne Entscheidung hier hat aber Konsequenzen für die Allgemeinheit“5.

Und auch damit noch nicht genug, instruiert er die Menschen gar noch auf subtile Weise, welches Verhalten in ihrem privaten Umfeld gegenüber Ungeimpften nun angebracht sei:

„Wer sich heute nicht impfen lässt, darf sich morgen nicht beschweren, wenn er nicht zur Party eingeladen wird“6.

In ähnlicher Weise spricht auch Drosten neben dem Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Impfquote und Corona-Maßnahmen von privater Überzeugungsarbeit:

„Es ist wichtig, jetzt sehr viel mehr Informationsarbeit zu leisten - auch im privaten Umfeld, damit die Impfquote schneller ansteigt. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit von erneuten schmerzhaften Eingriffen im Winter“7.

Der Druck auf das Individuum, das sich diesem Impfkollektivismus verweigert, wird hier von der Regierung regelrecht an die Bevölkerung „outgesourced“. Verbale Überzeugungsarbeit, soziale Ausgrenzung – das sollen nun Nachbarn, Freunde, Familie untereinander erledigen, immer in dem Bewusstsein, dass ihre eigene Freiheit vom Erfolg ihrer Überzeugungsarbeit abhängt.

Nicht nur also, dass die Politik aus der Kausalkette der Geschehnisse, für die in erster Linie sie selbst die unmittelbare Verantwortung trägt, verschwindet; ganz gezielt wird hier die Gesellschaft tief gespalten und eine Gruppe gegen die andere aufgehetzt. Dem sog. „Stockholm-Syndrom“ wird so aktiv Vorschub geleistet.

Der Begriff „Stockholm-Syndrom“, geprägt durch eine Geiselnahme in einer Bank in Stockholm 1973, beschreibt ein psychologisches Phänomen, dessen Grundprinzip auch auf unsere derzeitige Gesellschaft übertragen werden kann: Die Menschen solidarisieren sich mit denen, in deren Gewalt sie sich befinden, gegen die sie machtlos und von deren Wohlwollen sie abhängig sind. Ihr Zorn richtet sich interessanterweise dann gegen jene, die sich dem Willen der Gewalthaber widersetzen und so deren Wohlwollen gegenüber den von ihnen Abhängigen gefährden. Die Abhängigen übernehmen das Denken ihrer Gewalthaber, nämlich die Behauptung, dass diese durch den Ungehorsam einiger Individuen – im namensgebenden Beispiel den von Polizei und Politik, die die Forderungen der Geiselnehmer nicht erfüllten – zu ihrem übergriffigen Verhalten gezwungen sind. Sie nehmen dieses Denken an, obwohl es offenkundig ist, dass die, die Macht über sie ausüben, durchaus über Handlungsspielraum und Alternativmöglichkeiten bis hin zur Freilassung verfügen und sehen in den Widerspenstigen den gemeinsamen Feind.

Die Bibel berichtet von einer Situation, in der ganz ähnliche Machtstrukturen und psychologische Mechanismen gegriffen haben:

Nach dem Tod Josephs, zu dessen Lebzeiten sich seine ganze Familie mit dem Einverständnis des ägyptischen Pharaos in dessen Land angesiedelt und über Generationen vermehrt hatte, „kam ein neuer König auf über Ägypten […] der sprach zu seinem Volk: […] Wohlan, lasst uns kluge Maßnahmen gegen sie ergreifen, dass sie nicht zu viele werden, sie könnten sonst […] aus dem Land ziehen (2Mo 1.8-10). Das Volk Israel wurde versklavt.

Als eines Tages Mose im Auftrag Gottes das Ende dieser Maßnahmen vom Pharao fordert, reagiert dieser mit einer Erhöhung des Drucks auf das geknechtete Volk, indem er ihnen noch mehr Pflichten auferlegt. Was war nun die Reaktion des Volkes? „Der HERR sehe auf euch und richte es, dass ihr uns verhasst gemacht habt vor dem Pharao und seinen Knechten und ihnen das Schwert in die Hand gegeben habt, um uns zu töten!“, klagen die Aufseher der Israeliten Mose und Aaron an (2Mo 5.21). Mose hatte das Volk zuvor in Kenntnis gesetzt und war mit dessen Wissen und Einverständnis zum Pharao hineingegangen (2Mo 4.29,31). Aber statt ihren Zorn auf den Pharao zu richten, der sich ihrem Gott widersetzt, richtet sich ihr Hass auf den vermeintlichen Urheber ihrer Unterdrückung, obwohl dieser ein von Gott selbst legitimiertes Anliegen, offenkundig zu ihrem eigenen Besten, vertrat. Dass es in der Macht des Pharao gelegen hat, dem Willen Gottes zu entsprechen oder wenigstens keine weiteren Lasten auf das Volk zu legen, scheinen sie zu ignorieren.

Die Situation des Volkes Israel ist mit unserer heutigen sicher nicht eins zu eins zu vergleichen, aber die Prinzipien, nach denen Machtausübung und menschlicher Geist funktionieren, haben sich im Wesentlichen nicht verändert. Der Mensch scheint dazu zu neigen, sich einer übermächtigen Autorität auch bei großer Ungerechtigkeit zu fügen und die Schuld für deren Übergriffigkeit eher bei einem nur Gleichrangigen zu suchen.

Wenn diese Art der politischen und medialen Kommunikation weitergeht, ist analog zum rhetorischen Erfolg des personifizierten Virus‘ davon auszugehen, dass auch diese neue Vorgehensweise ihre Wirkung nicht verfehlen wird.

Beide Seiten, die Impfwilligen und die Impfunwilligen, müssen sich diese perfiden Mechanismen von Politik und Medien ebenso wie die ihrer eigenen Psyche bewusst machen. Die einen, um sich nicht für die Verfolgung einer unliebsamen Minderheit instrumentalisieren zu lassen, die anderen, um sich auf eben die Gefahr einer solchen sozialen Ächtung vorzubereiten und dennoch standzuhalten.


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