Grenzland Ukraine und der russische Bär – Hintergründe eines europäischen Konflikts

Am 21. Februar 2022 erkennt Russlands Präsident Wladimir Putin die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten an. Tags darauf stimmt das russische Parlament zu. Soldaten sollen in die Separatistengebiete entsandt werden. Zwei Tage später greift Russland die ehemalige Sowjetrepublik an.

Dieses Ereignis bestimmt die Schlagzeilen der Medienhäuser Europas und in der ganzen Welt. Corona scheint vergessen. Menschen fliehen aus der Ukraine in Nachbarstaaten, 1 Million sind es nach einer Woche, 1,7 Millionen nach zwei Wochen. Die Hälfte der Flüchtenden sucht Zuflucht im Nachbarland Polen. Viele sind bei ihren Verwandten untergekommen, denn in Polen leben schon 1,5 Millionen Ukrainer, von denen viele seit der Besetzung der Krim durch Russland im Jahr 2014 geflohen sind. So meldet es die FAZ. Am Ende könnten es mehr als sieben Millionen Flüchtlinge werden, befürchtet Janez Lenarcic vom UN-Flüchtlingshilfswerk. Laut Tagesschau sind mittlerweile 123.000 Flüchtlinge in Deutschland angekommen, 97.000 sind es gemäß Heute.at in Österreich. Tausende von Toten sind schon jetzt zu beklagen, wenngleich es keine verlässlichen Zahlen gibt. Unbeschreibliches Leid ist die Folge.

Schaut man sich nun die Geschichte der Ukraine etwas näher an, wird deutlich, dass die Gründe für das aktuelle Drama sehr tief verwurzelt liegen. Es kann deshalb in diesem Rahmen nur der eine oder andere Aspekt beleuchtet werden.

„Die Bezeichnung der Ukraine als ‚Grenzland’ ist mehr als doppelsinnig: Zunächst ist die Lage der Ukraine an oder besser beiderseits der Grenze zwischen ‚Ost’ und ‚West’ gemeint […] Weiterhin ist ihre Geschichte eine Geschichte der Grenzen, die das Land stets in seinen Umrissen veränderten […] So verdient schließlich die Ukraine ihren Namen: Im Altrussischen bezeichnet das Wort ‚ukraina’ Grenzgebiete, die Außenbezirke eines Herrschaftsgebietes, den Übergang zu einem anderen Machtbereich." So beschreibt es Prof. Dr. Hans Hecker, der an der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf Osteuropäische Geschichte lehrt.

Grenzland war die Ukraine die gesamte Zeit ihres Bestehens. „Die Kiewer Rus […], auch Altrussland, Kiewer Russland bzw. Kiewer Reich war ein mittelalterliches, altostslawisches Großreich, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus angesehen wird", fasst Wikipedia zusammen. Demnach war das Gebiet der Ukraine über die Jahrhunderte hinweg Spielball zwischen Russland und Polen. Im Jahr 1667 gab es eine interessante Aufteilung: Alles was westlich war vom Dnjepr wurde Polen zugeschlagen, was östlich war nach Russland. Die Ukraine zerfiel in zwei Hälften. „Für Russland markierte die Angliederung der Ostukraine dagegen den Beginn des Aufstieges zur europäischen Großmacht", bewertet Wikipedia.

Zur Zeit des Kommunismus dann Zugehörigkeit zur Sowjetunion, 1991 der Paukenschlag: Die Ukraine wird ein selbstständiger Nationalstaat. Von wirklicher Selbstständigkeit allerdings kann nicht die Rede sein, die Ukraine wird von Oligarchen beherrscht und ausgebeutet. Laut Korruptionsindex von Transperancy International belegt sie mit Platz 117 einen der hinteren Ränge.

Die Forderungen Russlands, und damit Bedingungen für eine Beendigung des Krieges, sind laut Spiegel folgende: „Demnach geht es um „Demilitarisierung" und „Denazifizierung" sowie einen neutralen und nichtnuklearen Status der Ukraine. Außerdem fordert Moskau die Anerkennung der 2014 annektierten ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisches Territorium und eine Souveränität der Separatistengebiete Luhansk und Donezk in ihren administrativen Grenzen." Schon „Mitte Dezember hatte Moskau zwei Entwürfe für Abkommen mit den Vereinigten Staaten und der Nato übergeben, die weitreichende Forderungen an den Westen enthielten. Unter anderem sollte ein Nato-Beitritt der Ukraine schriftlich für alle Ewigkeit ausgeschlossen und die Nato-Truppenpräsenz in Osteuropa auf den Stand von vor 1997 zurückgeführt werden."

Russland beruft sich auf Zusagen des Westens, die Nato nicht Richtung Osten auszuweiten. Der Westen bestreitet diese Zusagen. Allerdings stütze laut Spiegel vom Februar 2022 ein neuer Aktenfund von 1991 den russischen Vorwurf. „Wie das Dokument belegt, stimmten Briten, Amerikaner, Deutsche und Franzosen jedoch überein, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Osteuropäer ‚inakzeptabel’ sei." Auch die Welt berichtet darüber: Bonns Vertreter Jürgen Chrobog erklärte damals laut Vermerk: „Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine Nato-Mitgliedschaft anbieten." Heute ist Russland umzingelt von Nato-Basen, viele der ehemaligen Staaten des Warschauer Vertrages gehören heute der Nato an. Geht es um die Ukraine, zeigt der russische Bär, dem über Jahre immer dichter auf den Pelz gerückt wurde, nicht nur seine Krallen, sondern beißt zu.

In seinem Buch „Das große Schachbrett" schrieb schon 1987 der im Jahr 2017 verstorbene Zbigniew Brzezinski, ehemaliger Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, dass die Ukraine der Schlüssel für Russlands Zukunft sein werde. Denn in der Ukraine entscheide sich, ob Russland sich nach Europa orientiere oder in imperiales Auftrumpfen zurückfalle. „Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. […] Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine Imperialmacht. […] Das Verhältnis der Ukraine zu Europa wird zum Wendepunkt für Russland. […] Eurasien ist das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft weiterhin ausgetragen wird. […] Auf ihm spielen nicht nur zwei, sondern mehrere Spieler, mit je unterschiedlichen Machtanteilen," wird Bzrezinski vom Deutschlandfunkt zitiert. Bzrezinski betont in seinen Interviews, dass Russland ohne die Ukraine nie wieder Supermacht werden könne. „Erst in diesem Kontext wird der erbitterte politische Kampf Russlands um die Ukraine verständlich", notiert die ZEIT.

Es ist klar: Die USA sind sich der Bedeutung der Ukraine für Russland ganz genau bewusst. 2015 fragt die ZEIT: „Haben die USA den Maidan gekauft?" und zitiert die amerikanische Staatssekretärin für Außenpolitik Victoria Nuland in einem Gespräch mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew am 28. Januar 2014 dahingehend, dass die USA 5 Milliarden Dollar in die Ukraine investiert hätten. Fünf Milliarden Dollar für eine orangefarbene Revolution, so wichtig ist den USA die Ukraine.

Zum Vorwurf der Denazifizierung schreibt das ZDF am 2. März 2022: „Zur Propaganda Moskaus gehört auch der Griff zu Stereotypen, die ukrainische Regierung sei ‚faschistisch’, in Kiew regierten ‚Nazis’. Er aktiviert eine tief im kollektiven Gedächtnis Russlands verankerte Erinnerung, dass ukrainisches Unabhängigkeitsstreben nicht nur anti-sowjetisch und anti-russisch, sondern auch antisemitisch war. Die Fakten sind nicht falsch. Der Unabhängigkeitskämpfer Stepan Bandera und seine Milizen haben mit den deutschen Angreifern gegen die Sowjetunion gekämpft und waren an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung in den ‚Bloodlands’ des Zweiten Weltkriegs beteiligt. Die moderne Ukraine hat sich, wenn überhaupt, nur halbherzig von Bandera distanziert. Noch immer sind Straßen nach ihm benannt, wird er in Lemberg mit einem riesigen Denkmal geehrt. An diese historische Kollaboration mit den Nazis zu erinnern, ist eine für viele Russen nachvollziehbare Rechtfertigung des jetzigen Kriegs. Die Erzählung appelliert gleichzeitig an Russlands einigenden Stolz, den Kampf und Sieg im Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler." Schon 2014 und 2015 thematisierten Anne Will und der Spiegel das Erstarken und die Rolle von Rechten, Nazis und Ultra-Nationalisten bei der Bildung der neuen Regierung.

Zu beachten wäre auch die Rolle des WEF mit Gründer Klaus Schwab im Zusammenspiel mit Putin. Gemäß der Website des WEF-Forums, wird Russland „eine führende Rolle bei der Gestaltung der Vierten Industriellen Revolution übernehmen." Die offizielle Website des russischen Präsidenten kremlin.ru berichtete am 27. November 2019 von einem Treffen des russische Präsidenten Wladimir Putin mit dem Vorstandsvorsitzenden des Weltwirtschaftsforums, Klaus Schwab, in St. Petersburg. Putin und Schwab erklärten dabei ihre gegenseitige Wertschätzung und Bedeutung füreinander. Laut Politico sind die Beziehungen des WEF zu Russland momentan auf Eis gelegt, „eingefroren, aber nicht tot: Das WEF lässt sich die Möglichkeit offen, als Brückenbauer zwischen Russland und der Ukraine zu fungieren, sobald der aktive Konflikt beendet ist." Bedenkt man die Ziele des WEF ([Amazing Discoveries] berichtete), von denen eines die Besitzlosigkeit der Menschen ist, könnte man durchaus sehen, dass ein Krieg mitten in Europa, allein schon durch die rasant steigenden Preise für Lebensmittel und Rohstoffe, die Welt diesem Ziel ein bedeutendes Stück näher bringen könnte.

Interessant und bemerkenswert ist in dem Zusammenhang auch die Rolle des Papstes. Über das Verhältnis von Putin zum Vatikan schreibt die Frankfurter Allgemeine schon im Juli 2019: „Auf die Frage, wie er sich das Interesse Putins am Papst erkläre, antwortete Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin vor einigen Tagen in einem Interview: ‚Der Präsident der russischen Republik gilt als religiöser Mann und ich denke daher, dass er den Papst als Verkörperung jener Werte betrachtet, die er für sein Leben als wichtig erachtet.’ Nach Audienzen im November 2013 und Juli 2015 war dies schon das dritte Treffen des russischen Präsidenten mit Franziskus. Während seiner ersten beiden Amtszeiten als Präsident, 2000 bis 2008, war Putin dreimal im Vatikan, bei Johannes Paul II. und später bei Benedikt XVI. […] Für Putin ist der Schulterschluss mit dem Papst auch hilfreich für die Inszenierung Russlands als Bollwerk gegen westliche ‚Dekadenz’ und ‚Pseudowerte’, wie sie Patriarch Kirill ständig beklagt. Das Pochen auf „traditionellen Werten" für Ehe und Familie verbindet Moskau mit Franziskus."

Unterdessen bringt der National Catholic Reporter den Papst als Vermittler im Ukrainekonflikt ins Spiel, in dem er titelt: „Während die Ukraine blutet, könnten Papst Franziskus und der russische Patriarch Kyrill als Unterhändler auftreten". Dabei wird an die stille Diplomatie von Papst Johannes XXIII. zwischen Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy im Jahr 1962 Bezug genommen, als die Welt durch die Kubakrise am Rande eines Atomkriegs stand. Später führte das Engagement von Johannes Paul II. zur Perestroika. Ob Papst Franziskus eine ähnliche Rolle bei der Lösung des Konflikts in der Ukraine spielen könnte? Fakt ist: Bereits am 27. Februar 2022 besuchte Papst Franziskus die russische Botschaft in Rom; das Gespräch mit dem russischen Botschafter dauerte ungewöhnliche anderthalb Stunden. „Franziskus hätte jederzeit den Botschafter einbestellen können, was die übliche Praxis ist", bemerkt die Asia Times und fügt hinzu: „Nichts, was ein Papst tut, ist je zufällig." Auch diese, gemäß der Asia Times außergewöhnliche, Geste nicht.

In Daniel 11,27 steht: „Die beiden Könige aber haben Böses im Sinn; sie sitzen am gleichen Tisch und reden Lügen; aber es wird nicht gelingen; denn das Ende kommt erst zur bestimmten Zeit." Für Christen ist klar: Es ist unmöglich, sich in der Frage des Ukrainekonflikts, wie auch sonst bei politischen Auseinandersetzungen, zu positionieren, zu streiten oder gar zu spalten. Jesus sagt in Matthäus 25, 22 bis 25: „Ihr wisst, dass die weltlichen Fürsten herrschen und die Obersten haben Gewalt. So soll es nicht sein unter euch. Sondern, so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener; und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht, gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele." Da, wo humanitäre Hilfe nötig ist, ist das Engagement des Christen gefragt. Dazu wird es in der kommenden Zeit mehr als genug Gelegenheit geben.

StpH, 15.03.2022, 10:31 Uhr


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