Von geistiger Eigenverantwortung

In Jesus‘ Endzeitrede aus Mt.24 heißt es in Vers14: „Und dieses Evangelium vom Reich wird in der ganzen Welt verkündigt werden, zum Zeugnis für alle Heidenvölker, und dann wird das Ende kommen“.

Gleichzeitig heißt es aber auch, dass es sein wird wie in den Tagen Noahs, als die Menschen nichts merkten, bis die Flut kam und sie alle dahinraffte (V.37ff).

Wie kann es also sein, dass auf der einen Seite Wissen und Erkenntnis verfügbar sind und auf der anderen Seite die Menschen dennoch im Dunkeln bleiben und „nichts merken“? Oder anders formuliert: Wie kann es sein, dass sich die Wahrheit, die doch verkündet wird und zugänglich ist, und das sogar „in der ganzen Welt“, nicht durchsetzt, sondern bis zum Ende „der schmale Weg“ (Mt.7.14) bleibt?

Eine Frage, die auch angesichts tagesaktueller und gar nicht mal nur theologischer Themen berechtigt ist: Wieso setzt sich auch in Politik und Gesellschaft nicht immer die Wahrheit durch?

Als Jesus zu den Menschen vom Reich Gottes sprach (Mt.13.1-17), tat er dies oft in Gleichnissen. Der Grund hierfür liefert auch die Antwort auf die gestellte Frage. Denn schaut man sich seine Antwort auf die Frage der Jünger an, warum er zum Volk in Gleichnissen spricht, wird deutlich, worin der Unterschied zwischen dem Verstehen und dem nicht Verstehen besteht:

„Weil es euch gegeben ist, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu verstehen; jenen aber ist es nicht gegeben. Denn wer hat, dem wird gegeben werden, und er wird Überfluss haben; wer aber nicht hat, von dem wird auch das genommen werden, was er hat“ (V. 11,12).

Wichtig ist die Kausalverknüpfung zwischen diesen beiden Sätzen: denn. Jesus erklärt ihnen, dass ihnen (Verständnis) gegeben wird, weil sie etwas haben, was andere nicht haben. Weiter sagt er: „Darum rede ich in Gleichnissen zu ihnen, weil sie sehen und doch nicht sehen und hören und doch nicht hören und nicht verstehen; und es wird an ihnen die Weissagung des Jesaja erfüllt, welche lautet: Mit den Ohren werdet ihr hören und nicht verstehen, und mit den Augen werdet ihr sehen und nicht erkennen! Denn das Herz dieses Volkes ist verstockt, und mit den Ohren hören sie schwer, und ihre Augen haben sie verschlossen, dass sie nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und sich bekehren und ich sie heile“ (V.13-15).

Auch hier ist der entscheidende Punkt der kausale Zusammenhang zwischen dem ersten und dem zweiten Jesaja-Vers, ausgedrückt durch das Wörtchen denn. So wie nämlich den Jüngern (Verständnis) gegeben wird, weil sie etwas haben, so sagt Jesus hier, dass die anderen nicht verstehen, weil sie etwas haben, und gibt auch an, um was es sich dabei handelt, nämlich um das verstockte Herz.

So liefert das Jesaja-Zitat die Erklärung für die Unfähigkeit der Menschen zu verstehen:

Sie haben ein verstocktes Herz, das dem Verständnis (mit dem Herzen - V. 15) im Wege steht.

Sie haben alle Möglichkeiten zu erkennen und zu verstehen: Sie sehen und sie hören. Die Wahrheit ist also verfügbar und zugänglich, aber ihr verstocktes Herz verhindert die Erkenntnis.

Das Verstehen ist also untrennbar mit dem Zustand des Herzens verknüpft. Und es ist die Voraussetzung für die Bekehrung: Wer mit dem Herzen versteht, was er sieht und hört, bekehrt sich und wird von Gott geheilt.

Als Jesus zu seinen Jüngern sagt, ihnen sei es gegeben, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu verstehen, sagt er also, dass sie unverstockte Herzen haben, im Gegensatz zum Volk mit den verstockten Herzen. Wer also (ein unverstocktes Herz) hat, dem wird (Erkenntnis) gegeben werden. Wer aber nicht (ein unverstocktes Herz) hat, von dem wird auch das (Stück Erkenntnis, auf dem hätte aufgebaut werden können) genommen werden, was er hat.

Das erklärt auch, warum zwölf von ihnen trotz so mangelhafter Erkenntnis in vielen Detailfragen dennoch seine auserwählten Jünger waren: Es ist zweitrangig, wie groß der Teil der Wahrheit ist, den ein Mensch verstanden hat, entscheidend ist, wie groß seine Bereitschaft ist, die Wahrheit zu verstehen. Nicht also die Frage „wieviel weißt du?“ ist für Gott relevant, sondern die Frage „(wieviel) willst du wissen?“ Die „Liebe zur Wahrheit“, die sich hierin zeigt, ist es, durch die Menschen gerettet werden können, und die diejenigen, die verloren gehen, nicht angenommen haben (2.Thes.2.10).

Diese Liebe zur Wahrheit offenbart sich bei den Jüngern darin, dass sie nachfragen, was sie nicht verstehen. Denn was beim oberflächlichen Lesen des Dialoges zwischen ihnen und Jesus irritiert, ist der scheinbare Widerspruch zwischen ihrer Rückfrage zum Gleichnis „was bedeutet wohl dieses Gleichnis?“ und Jesus‘ Antwort „euch ist es gegeben, die Geheimnisse des Reiches der Himmel zu verstehen“ (Lk.8.9,10). Ihre Frage beweist doch, dass sie nichts begriffen haben. Ebenso fragen sie auch bei einem anderen Gleichnis: „Und seine Jünger traten zu ihm und sprachen: Erkläre uns das Gleichnis vom Unkraut auf dem Acker“ (Mt.13.36). Jesus kann also unmöglich meinen, ihnen sei die Fähigkeit gegeben, im ersten Anlauf die theologische Aussage seiner Reden zu erfassen; sie können es ebenso wenig wie die Menge, zu der er sprach. Ihnen aber ist das unverstockte Herz gegeben, das sie veranlasst, verstehen zu wollen und daher nachzuhaken und zu fragen, was sie von allein nicht sofort begreifen. Deshalb legt Jesus ihnen in beiden Fällen auf ihre Nachfrage hin das Gleichnis aus.

Hierin besteht das ganze Geheimnis und alles, was Gott von uns Menschen fordert: Willst Du verstehen oder willst Du nicht verstehen?

Ein Fragen nach einer Erklärung, wie es die Jünger taten, offenbart schlicht und einfach echtes Interesse am Thema und, sofern die Frage aufrichtig ist, das Verlangen, auf dem erfragten Gebiet dazuzulernen.

Wo also Wissen theoretisch verfügbar ist, wird ein williger Geist zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Wenn nun die Bibel sagt, dass das Evangelium verkündigt werden wird, und zwar in der ganzen Welt, und dennoch viele Menschen nichts merken werden, spricht das für die Wahrheit des Bibelwortes aus 2.Tim.3.1ff, in dem Paulus den charakterlichen Zustand der Menschen am Ende der Zeit beschreibt.

Soll das nun bedeuten, dass alles Verkünden der Wahrheit zwecklos ist? Um Paulus‘ Worte zu gebrauchen: Das sei ferne! Denn erstens sagt Jesus in Mt. 24, wozu das Evangelium in der ganzen Welt verkündet werden wird, nämlich „Zum Zeugnis für alle Heidenvölker“ (V.14). Und zweitens gibt es einzelne Suchende. Das sehen wir dieser Tage, in denen in so gut wie allen relevanten politischen und gesellschaftlichen Themen von Politik und Medien ein enger Meinungskorridor vorgegeben ist, in dessen Grenzen eben oft die Wahrheit nicht zu finden ist, und sich hiergegen zunehmend Widerstand regt. Es gibt Menschen, die, je deutlicher und ungeschminkter die Lüge zutage tritt, diese erkennen und beginnen, nach Wahrheit zu forschen. Für diese lohnt jedes missionarische Streben.

Man darf aber im Hinterkopf behalten, dass ein Scheitern solchen Strebens nicht zwangsläufig eigenes missionarisches Versagen bedeutet. Sondern das (verstockte) Herz des Menschen entscheidet, wo es sich zuwendet und wovon es sich abwendet.