Widersprüche in Ellen Whites Schriften? – Teil 3: „Erlösung“

Juni 2016, advindicate.com, Kevin Paulson

In unserem dritten Teil der Artikelserie über angebliche Widersprüche im Schrifttum Ellen Whites wollen wir die in den letzten Jahrzehnten recht bekannte Behauptung betrachten, Ellen Whites Lehre von der Erlösung hätte in den frühen Jahren ihres Dienstes stark das Gesetz hervorgehoben und sei sogar gesetzlich gewesen; mit den Jahren jedoch, besonders nach der Generalkonferenz in Minneapolis 1888 mit dem Thema Glaubensgerechtigkeit, soll sich ihr Erlösungsverständnis mehr christozentrisch und die Gnade betonend entwickelt haben. Manche Geschwister beschreiben diese angebliche Entwicklung der Theologie Ellen Whites als eine Reise vom Sinai nach Golgatha.

Natürlich ist nicht abzustreiten, dass Ellen White im Laufe ihres Dienstes auch biblische Wahrheiten mit zunehmender Tiefe und geistlicher Fülle beschrieben hat. Ein gutes Beispiel dafür ist die Beschreibung endzeitlicher Ereignisse in Erfahrungen und Gesichte und später in Der große Kampf. Die theologischen Aussagen Ellen Whites – und auch der Bibel – dürfen jedoch nicht durch die Brille theologischer Theorien gelesen werden, die oft nicht die Gesamtheit der biblischen Botschaft zu einem Thema berücksichtigen. Dieses Problem tritt besonders dann auf, wenn nichtadventistische Lehrkonstrukte auf adventistische Glaubensüberzeugungen über Inspiration angewandt werden.

Woran misst man die Genauigkeit oder Reife der Aussagen Ellen Whites über Erlösung und Glaubensgerechtigkeit, egal ob vor oder nach 1888? Erlauben wir der Schrift und dem Geist der Weissagung, sich selbst auszulegen und Begriffe wie Gnade, Gesetzlichkeit, Rechtfertigung, Heiligung usw. selbst zu erklären und zu definieren? Messen wir Ellen Whites Aussagen am biblischen Maßstab einer gründlich ausformulierten Erlösungstheologie, die sich gleichermaßen auf Altes und Neues Testament stützt? Oder urteilen wir anhand einzelner Bibeltexte, deren Auslegung zudem stark von den Behauptungen und Ansichten nichtinspirierter Theologen (Adventisten und andere) gefärbt und oft vom Wunsch nach Erlebnissen und geistlichem Wohlgefühl angetrieben ist?

Grundlage aller Lehren muss für den Christen immer die Gesamtheit der Schrift in beiden Testamenten sein. Vergessen wir nicht, dass die neutestamentlichen Christen in Beröa von den Aposteln dafür gelobt wurden, dass sie die Lehren von Paulus und seinen Begleitern anhand der alttestamentlichen Schriften – der einzigen Bibel, die den Gläubigen damals zur Verfügung stand – überprüften (Apostelgeschichte 17,11). Selbst Paulus gründete seine Lehre der Rechtfertigung aus Glauben auf das Alte Testament (siehe Psalm 32,1-2; Habakuk 2,4; Römer 1,17; 4,6-8). Kein Wunder, dass er später an Timotheus schrieb: „… weil du von Kindheit an die heiligen Schriften kennst, welche die Kraft haben, dich weise zu machen zur Errettung durch den Glauben, der in Christus Jesus ist“ (2. Timotheus 3,15). Auch Timotheus stand in seiner Kindheit nur das Alte Testament zur Verfügung. Paulus war offensichtlich nicht der Illusion verfallen, seine Lehre der Glaubensgerechtigkeit sei eine neutestamentliche Neuheit.

Lesen wir eine bezeichnende Aussage von Ellen White, die in einer Diskussion wie dieser nie aus den Augen verloren werden sollte:

Die Zeugnisse selbst werden der Schlüssel zu den Botschaften sein, genauso wie die Heilige Schrift sich selbst erklärt. (Für die Gemeinde geschrieben, Bd. 1, S. 43)

Die Annahme, Ellen Whites Theologie hätte sich wegen der starken Betonung der Glaubensgerechtigkeit um das Jahr 1888 wesentlich geändert, lässt sich nur schwer mit ihren eigenen Aussagen aus dieser Zeit in Übereinstimmung bringen. 1890 schrieb sie:

Der Punkt, der sich mir immer wieder aufdrängt, ist die zugerechnete Gerechtigkeit Christi. Ich habe mich gefragt, warum dieses Thema nicht in unseren Gemeinden im ganzen Land gepredigt wird, obwohl es mir ständig vor Augen gehalten wird. Fast alle meine Predigten und Reden vor den Menschen hatten dieses Thema.

Ich untersuchte, was ich vor 15 – 20 Jahren geschrieben hatte, und fand diese Wahrheit in demselben Licht dargestellt. Wer die ernste, heilige Aufgabe des Predigtdienstes auf sich nimmt, sollte zuerst mit den Lehren Christi und der Apostel über die lebendigen Grundsätze praktischer Frömmigkeit darauf vorbereitet werden. (Faith and Works, S. 18)

Im Rückblick auf die Konferenz in Minneapolis schrieb Ellen White:

Während des Treffens gab ich Zeugnis davon, wie kostbarstes Licht aus der Schrift geleuchtet hatte in der Darstellung des großen Themas der Gerechtigkeit Christi in Verbindung mit dem Gesetz. Dieses Thema sollte dem Sünder ständig vor Augen sein; es ist seine einzige Hoffnung auf Erlösung. Es war kein neues Licht für mich. In den letzten 44 Jahren hatte ich es von höherer Hand empfangen und in Wort und Schrift als Zeugnisse Seines Geistes an unser Volk weitergegeben. (Selected Messages, Bd. 3, S. 168, Kursiv hinzugefügt)

Den obigen Zitaten zufolge war die Botschaft der Glaubensgerechtigkeit im Jahr 1888 kein neues Licht. Ellen White hatte diese Botschaft schon seit Jahren verkündigt. Die Annahme, in den Aussagen Ellen Whites vor 1888 sei Erlösung durch Gnade und Glauben nicht klar erkennbar, stellt sich demnach als vorgefasste Meinung heraus, die sich durch die inspirierten Schriften berichtigen lassen sollte.

Ellen Whites Aussagen vor 1888 über das Evangelium und die Erlösung sind ebenso deutlich wie nach 1888: Nur durch Gottes versöhnende und befähigende Gnade können die Sünden der Gläubigen vergeben und der vom Gesetz geforderte Gehorsam ermöglicht werden. Hier einige Aussagen Ellen Whites vor 1888, um diesen Punkt zu verdeutlichen:

Werde ich ohne Fehl vor Gottes Thron stehen kön­nen? Nur die Vollkommenen werden dort sein. Niemand wird für den Himmel verwandelt werden, während sein Herz mit dem Schutt die­ser Welt angefüllt ist. Jeder Fehler im sittlichen Charakter muss zuerst geheilt, jeder Flecken durch das reinigende Blut Christi entfernt und alle unschönen, unliebsamen Wesenszüge müssen entfernt sein. (Zeugnisse für die Gemeinde, Bd. 1, S. 732f.)

Erforsche, o erforsche dich, es gilt dein Leben. Verurteile dich selbst, richte dich selbst, und dann beanspruche im Glauben das reini­gende Blut Christi, um die Flecken von deinem christlichen Charakter zu entfernen … Jesus wird dich, befleckt wie du bist, in seinem Blut waschen, von allen Flecken reinigen und dich geschickt für die Gesellschaft der heiligen Engel in einem rei­nen, harmonischen Himmel machen. (Zeugnisse für die Gemeinde, Bd. 2, S. 85)

Nur durch Gottes Kraft kannst du dahin gelangen, ein Empfänger seiner Gnade, ein Werkzeug der Gerechtigkeit zu werden. Gott fordert von dir nicht nur, deine Gedanken unter Kon­trolle zu bringen, sondern auch deine Leidenschaften und Neigungen. Dein Heil hängt davon ab, dass du dich in diesen Dingen beherrschst. (Zeugnisse für die Gemeinde, Bd. 2, S. 552f.)

Das Halten der Gebote stellt die ganze Pflicht des Menschen dar und zeigt uns die Bedingungen für ewiges Leben. Die Frage ist: Wird der Mensch diesen Forderungen nachkommen? Wird er Gott über alles lieben und seinen Nächsten wie sich selbst? Der Mensch kann dies unmöglich in seiner eigenen Kraft erreichen. Die göttliche Kraft Christi muss mit den menschlichen Bemühungen vereint werden. (Signs of the Times, 24.11.1887)

Folgende Zitate zeigen, dass Ellen Whites Aussagen nach 1888 ebenso deutlich wie davor die unabänderliche Bedingung für die Erlösung des Menschen darlegen – Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz durch die Kraft des Geistes:

Das Werk der Erlösung besteht aus partnerschaftlichem, gemeinsamem Wirken … Menschliche Anstrengungen reichen niemals aus. Ohne den Beistand der göttlichen Kraft sind sie nutzlos. Gott und Mensch müssen zusammenwirken. (Das Wirken der Apostel, S. 477)

Wer in Christi Armee in den Dienst genommen werden möchte, muss sich in allen Dingen Seiner Autorität unterstellen und nach Seinem Willen fragen. Unbedingter Gehorsam ist die Bedingung für Erlösung. Gottes Gesetz muss in jeder Einzelheit befolgt werden. Sein Gesetz unser Maßstab, Sein Leben unser Vorbild, Seine Ehre unser höchstes Ziel – das ist unsere Erlösung. (Signs of the Times, 15.11.1899)

Das Evangelium, das allen Völkern, Nationen, Sprachen und Stämmen verkündigt werden soll, zeigt die Wahrheit klar auf. Es zeigt, dass Gehorsam die Bedingung für das ewige Leben ist. Christus verleiht seine Gerechtigkeit allen, die Ihm erlauben, ihre Sünden wegzunehmen. (SDA Bible Commentary, Bd. 7, S. 972)

Als der Schriftgelehrte zur Christus kam mit der Frage: „Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu ererben?“, antwortete der Heiland nicht: „Glaube, glaube nur, und du wirst gerettet.“ Er sagte: „Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liest du?“ … Hier wird die Irrlehre, der Mensch müsse nur glauben und nichts tun, weggefegt. Ewiges Leben wird uns unter der Bedingung gegeben, dass wir den Geboten Gottes gehorchen. (Review and Herald, 26.6.1900)

Ironischerweise stammt die beste Kritik an der „Vom-Sinai-nach-Golgatha-Theorie“, die eine „Entwicklung“ in der Heilslehre Ellen Whites aufzeigen möchte, aus einer Zeitschrift von ehemaligen Adventisten. Der Artikel „Did Ellen White change as she aged?“ (Colleen Tinker, Proclamation!, Jan / Feb 2009, S. 14-16) führt einige der deutlichsten Aussagen aus Ellen Whites späteren Schriften auf, in denen geheiligter Gehorsam als Erlösungsbedingung und die Möglichkeit eines sündlosen Gehorsams hier auf der Erde bekräftigt werden, darunter folgende Zitate:

Sein [Jesu] Beispiel lehrt uns, dass wir nur dann Hoffnung auf ein ewiges Leben haben können, wenn wir unsere Begierden und unsere Leidenschaften dem Willen Gottes unterwerfen. (Das Leben Jesu, S. 107)

Im Kampf um die Unsterblichkeit haben auch wir einen Teil zu erfüllen … Wir werden nicht in Untätigkeit und Trägheit gerettet. Erlösung ohne eine Bemühung unsererseits zu erhoffen, ist, als würden wir auf eine Ernte warten, ohne gesät zu haben, oder als wollten wir Wissen erlangen, ohne zu lernen. Unser Part ist, gegen die bösen Neigungen des natürlichen Herzens zu kämpfen. (Youth Instructor, 5.3.1903)

Er kam in diese Welt und führte ein sündloses Leben, damit sein Volk durch seine Kraft ebenfalls sündlos leben kann. (Atlantic Union Gleaner, 17.1.1906; siehe auch Review and Herald, 1.4.1902 sowie 15.3.1906)

Kein Mensch kann untätig bleiben und errettet werden. Keiner denke, Männer und Frauen würden ohne Teilnahme an dem Kampf hier auf Erden in den Himmel genommen werden. Wir haben einen Kampf zu kämpfen und einen Sieg zu erringen. Gott sagt uns: „Verwirklicht eure Errettung mit Furcht und Zittern.“ Wie? „Denn Gott ist es, der in euch sowohl das Wollen als auch das Vollbringen wirkt nach seinem Wohlgefallen.“ Der Mensch wirkt, und Gott wirkt. Der Mensch wird aufgefordert, jeden Muskel anzustrengen und alle seine Kraft einzusetzen, um das ewige Leben zu erlangen, aber Gott ist es, der dem Wirkung gibt. (Review and Herald, 28.4.1910)

Die große Krise steht uns bevor. Jeder muss handeln, als stehe seine Seele auf dem Spiel. Die wichtigste Frage überhaupt ist: Wie soll ich meine Seele retten, für die Christus doch gestorben ist? Wie kann ich so heilig sein wie Er? (Review and Herald, 15.5.1913)

Obwohl der Autor und auch die besagte Zeitschrift offensichtlich die vielen neutestamentlichen Texte übersehen haben, die ebenso deutlich wie Ellen White lehren, dass Wiederherstellung, Heiligung und geistgewirkter Gehorsam gegen Gottes Gesetz ebenfalls Teil des Prozesses und der Bedingungen der Erlösung sind (siehe Matthäus 7,21; 12,36-37; 19,16-26; 25, 31-46; Lukas 10,25-28; Römer 2,6-10; 8,13; 2. Thessalonicher 2,13; Titus 3,5; Hebräer 5,9; Jakobus 2,10-12), zeigen sie doch korrekt auf, wie Ellen Whites spätere Schriften ganz klar die Heiligung und einen vollkommenen Charakter als Teil der biblischen Erlösungslehre beinhalten. Was diese ehemaligen Adventisten nicht beachtet haben, ist, dass nicht Ellen White, sondern die Bibel selbst ihre Theologie und falsche Sicherheit widerlegen.

Ebenfalls ironisch ist, dass derselbe Artikel korrekt die Fehlannahme aufdeckt, ein inspirierter Prophet könne zeitweise auch Irrtümer verkünden, selbst wenn diese später aufgegeben würden:

Ein Problem dieser Rationalisierung ist, dass „fortschreitende Offenbarung“ als Ellen Whites Entwicklung vom Irrtum zur Wahrheit verstanden wird. Wahre fortschreitende Offenbarung beginnt jedoch nie beim Irrtum. Wenn Gott einen Menschen inspiriert, gibt Er ihm niemals „Irrtum“. Gott kann nicht lügen, Seine Offenbarungen sind immer wahr, auch wenn nicht alle Einzelheiten offengelegt werden. („Did Ellen White change as she aged?“, S. 14)

Es ist natürlich ein Unterschied, ob ein inspirierter Schreiber in seinen persönlichen Überzeugungen und Lebenswandel Irrtümer ablegt und der Wahrheit folgt oder ob er in seinem öffentlichen Dienst als Prophet Irrtümer lehrt. Johannes der Täufer etwa hatte ein falsches Verständnis vom Wesen des messianischen Reiches; trotzdem gibt es keinen inspirierten Hinweis, dass er dieses Verständnis in seinem öffentlichen prophetischen Wirken je weitergab. Ellen White hielt in den frühen Jahren ihres Dienstes noch den Sonntag und aß Schweinefleisch, aber sie verkündete diese Praktiken nicht in der jungen Gemeinde.

In den nächsten Artikeln werden wir weitere scheinbare Widersprüche in Ellen Whites Schriften betrachten.